Samstag, 12. Dezember 2015

Isabella Muhr - Indie-Autor-Challenge

Die wunderbare Isabella Muhr, die gerade ihren zweiten Roman‪ #‎Schneeglöckchenzauber veröffentlicht hat wurde von Kathrin Lichters nominiert.
Hier ist ihre Geschichte aus der KW 25.

Gipsarm
Babyflasche
Fernsehserie
Unwetter
Radkappen
Gießkanne
Gartenhaus
Kunstdruck
Ziegel
Schaukel
Rasenmäher
Kassenbeleg
Glastür
Abgase
Kaffeebohne

„Willst du noch eins?“ fragte Rudi seinen alten Freund Karl und nickte zu der Tasche, gefüllt mit Augustiner Bier hinunter, die er neben die Holzbank, auf der beide saßen, auf den Boden gestellt hatte. Karl nickte verhalten und starrte dabei weiter in die Ferne, die sich vor ihnen ausbreitete. Ihr jetziger Standpunkt gewährte ihnen völlig freie Sicht auf das Dorf, in dem sie beide gemeinsam aufgewachsen waren und in dem Karl auch jetzt immer noch lebte. Man konnte die alte Kirche sehen, den Dorfladen, den großen Bauernhof von Bauer Hämpel, wo sie als Kinder immer die Hühner gejagt hatten und das Nachbargrundstück von Herrn Grundler, in das sie jeden Sommer eingebrochen waren, um Kirschen vom Baum zu stehlen.
Als Kinder waren sie beinahe jeden Tag hier oben gesessen, hatten die vom Nachbarn geklauten Früchte vertilgt und über ihre neuesten Streiche gelacht. Aber diese glücklichen Zeiten lagen weit zurück in der Vergangenheit und hier in der Gegenwart gab es absolut nichts zu Lachen. Zumindest nicht für Karl.
Als es heute Vormittag an seiner Haustür geklingelt hatte, war Karl noch im Schlafanzug gewesen. Aufstehen, anziehen, das alles hatte seit dem Tod seiner Frau Greta vor 2 Wochen jegliche Bedeutung für ihn verloren. Er war zu müde, um etwas zu empfinden, als er seinen besten Freund dort in der Tür stehen sah. Widerstandslos ließ er sich von ihm an den Lieblingsort ihrer beider Kindheit zerren, um gemeinsam ein paar Bierchen zu zischen und an alte Zeiten anzuknüpfen. Rudi war vor über zwanzig Jahren in die Stadt gezogen und dennoch war ihre Freundschaft so stabil und innig geblieben, wie es ein Drehbuchautor für eine Fernsehserie nicht besser hätte erfinden können. Obwohl sie sich selten sahen, war es bei jedem Wiedersehen so, als wären sie nie voneinander getrennt gewesen. Und auch, wenn Karl emotional noch zu vereinnahmt war von Zorn und Trauer, die ihn seit Gretas Ableben begleiteten, so wusste er den Wert und die Wirkung von Rudis Gesellschaft durchaus zu schätzen.
Rudi musterte seinen Freund verstohlen von der Seite. Die Art, wie dieser vor sich ins Nichts zu starren schien und dabei an seinem Bier nuckelte - wie ein Säugling an der Babyflasche - machte ihm Sorgen.
„Denkst du an Greta?“ fragte er unvermittelt und fühlte sich sogleich schuldig, ob dieser unüberlegten Äußerung. Karls Gesicht verzerrte sich für einen flüchtigen Moment zu einer Grimasse aus purem Schmerz, bevor er tapfer antwortete.
„Ich habe eher an Herrn Grundler und seinen Krischbaum gedacht, um ehrlich zu sein. Weißt du noch, als wir neun Jahre alt waren und du von ganz oben heruntergefallen bist? Du hast dir dabei ziemlich fies den Arm gebrochen. Doch selbst mit Gipsarm bist du noch dort hochgeklettert und hast dir die dicksten Kirschen gesichert, bevor die Vögel sie uns wegpicken konnten.“
Seine Stimme klang rau wie Sandpapier und seine müden Augen glänzten feucht, als er weiter sprach.
„Oder weißt du noch, als wir Weitwerfen mit den alten Dachziegeln von Bauer Hämpel gespielt haben? Ich bin über eines dieser lästigen Hühner gestolpert, die einem ständig vor die Füße gerannt sind und hab mit dem Ziegel in meiner Hand direkt die Glastür vom Gartenhaus des Bauern getroffen. Der alte Hämpel hat uns die ganze Straße hinunter gejagt und am nächsten Tag ist er sogar bei uns zu Hause mitsamt dem Kassenbeleg seines Gartenhauses vor unserer Haustür gestanden. Ich hab mir fast in die Hosen gemacht vor Angst und was sagt meine Mutter?
Ihr Gartenhaus interessiert mich nicht die Kaffeebohne mein lieber Herr Hämpel! Die Abgase ihres neuen Monster-Rasenmähers, die in regelmäßigen Abständen die Luft in unserem Garten verpesten, interessieren mich viel mehr! hatte sie ihm entgegen geschmettert und unsere Haustür gleich hinterher. Auch wenn es für mich danach noch richtig Ärger gab, so muss ich immer noch lachen, wenn ich an das verdutzte Gesicht des alten Hämpel denke.“
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Karls Gesicht, das Rudi sogleich ansteckte. Rudi saß stumm neben seinem Freund und hörte ihm aufmerksam zu, während dieser sogleich wieder mit hängendem Kopf auf die Bierflasche starrte und sie dabei nachdenklich in seinen Händen kreisen ließ. Sie schwiegen eine Weile und hingen mit ihren Gedanken in der Vergangenheit fest. Der Wind pfiff ihnen ungemütlich um die Ohren und Rudi hob fröstelnd die Schultern. Das sah verdammt nach Unwetter aus, dachte er sich und zuckte leicht zusammen, als die Stimme seines Freundes zur selben Zeit die drückende Stille durchschnitt.
„Kurz bevor sie starb haben wir uns gestritten.“
Karls Stimme war kaum mehr als ein gequältes Flüstern.
„Sie hatte mir vorgeworfen, dass ich unnötiger Weise viel zu teure Radkappen für unsere neuen Winterreifen bestellt hätte und ich habe ihr dann im Gegenzug vorgeworfen, dass ich den Kunstdruck mit dieser hässlichen Schaukel und dem noch hässlicheren Kind darauf, welches sie zu einem völlig horrenden Preis bei diesem Ebay ersteigert hatte genauso sinnfrei fand, wie sie meine neuen Radkappen. Sie war so wütend auf mich, dass sie mir einfach das komplette Wasser aus der Gießkanne in ihrer Hand über meine Schuhe gekippt hatte und sich schmollend zur Nachbarin verzog. Dort ist sie dann kurze Zeit später zusammengebrochen. Jetzt ist alles, was mir von ihr geblieben ist, dieser hässliche Kunstdruck und die nagenden Schuldgefühle über einen überflüssigen Streit.“
Eine kleine Träne stahl sich aus dem Augenwinkel des alten Mannes, der so klein und verletzlich auf dieser Holzbank saß und tropfte ihm über die Nase auf seine Handfläche. Rudi stieß die Luft, geräuschvoll aus seinen Lungen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er den Atem angehalten hatte. Bevor er etwas erwidern konnte, hörte er Karl sagen:
Wir hatten eine verdammt gute Zeit zusammen - Greta und ich!
Rudi schluckte schwer Angesichts der Emotionalität, die sich über den bedeutendsten Platz seiner Kindheit ausbreitete, bevor er das Wort an seinen besten und ältesten Freund richtete.
„Auch wenn die jetzige Zeit beschissen ist, die Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit kann dir niemand nehmen, Karl.“
Er nahm einen kräftigen Zug aus seiner Flasche, bevor er hinzufügte: „Und ich werde immer da sein, um dir zu helfen, dich zu erinnern.“
Rudi legte beherzt seinen Arm um seinen alten, besten Freund, stieß seine Bierflasche gegen die von Karl und lächelte ihm so aufmunternd ins Gesicht, dass dieser nicht anders konnte, als zurück zu lächeln. Für einen kurzen Moment beschäftigte Karl nicht der Kummer über das was er verloren hatte, sondern er konnte sich an dem erfreuen, was ihm noch geblieben war.


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